Nachgefragt

«Für dieses Glücksgefühl lohnt sich alle Verzweiflung und Mühe»

Ein Gebäude zu begehen, das sie selbst geplant hat, ist für die Architektin Tilla Theus der grösste Lohn. Der Weg dorthin kann mühselig sein. Doch Hindernisse spornen Tilla Theus seit jeher zu kreativen Höchstleistungen an, wie im Interview deutlich wird.

Frau Theus, wie haben sich die Baubranche und die Arbeit als Architektin verändert, seit Sie Ihr Büro gegründet haben?

Heute muss alles schnell gehen, Zeit ist Geld. Für Recherchen bekommen wir kaum noch Zeit. Das heisst, wir müssen dafür Zusatz-Zeitfenster einsetzen, abends oder am Wochenende, um die vorgesehenen Termine einhalten zu können und doch mehr zu bieten, als nötig wäre. Aber auch um unseren eigenen Ansprüchen an die architektonische Qualität gerecht werden zu können. Und dabei haben wir es in der Schweiz noch recht komfortabel, wenn ich das mit Kollegen im Ausland vergleiche.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Wir sind an der ETH Zürich als Allrounder ausgebildet worden, als Bindeglied aller Spezialistinnen und gleichzeitig als Treuhänder der Bauherrschaft. Dies habe ich immer so gelebt und lebe es weiterhin, auch wenn es heute nicht mehr gleich gesehen wird. In all den Jahren hatte ich das grosse Glück, Bauherrschaften als Auftraggeber zu haben, die ihre Verantwortung, die mit dem Bauen verknüpft ist, auch wahrnehmen wollten. So wurde ich vor den eigentlichen Sitzungen der Baukommissionen zum Gespräch geladen, an denen der Patron Auskunft über vieles wollte. Das waren schwierigste Treffen, galt es doch Probleme anzusprechen und ohne Vorwürfe Klarheit zu schaffen.

An solchen Gesprächen fühlte ich mich als Treuhänderin der Bauherrschaft, und ihr Vertrauen spornte mich an. Das war eine grosse Belastung einerseits, eine grosse Herausforderung anderseits. Aber eine grosse Ehre und Freude war es auch, wenn es gelang, den Bau mit Erfolg zur Zufriedenheit und zum Stolz der Auftraggeber abzuschliessen.

Solche Momente werden heute seltener, denn wir Architektinnen und Architekten werden immer mehr zu einer Dienstleistungsgruppe degradiert. Wir werden nicht mehr als Bindeglied aller, sondern nur als Teil des Gesamten betrachtet.

Darunter leidet die architektonische Qualität. Dagegen wehre ich mich, denn unsere Umwelt hat mehr verdient. Sie bildet unseren Lebensraum. Damit prägt sie ja auch unser Wohlbefinden.

Welche Vor- und Nachteile hat die fortschreitende Digitalisierung im Architektur- und Baubereich Ihrer Meinung nach?

Die neuen Möglichkeiten der Verknüpfung der digitalen Systeme zwischen Planen und Ausführen sind grossartig. Die Digitalisierung hilft, bei der aufwändigen Verarbeitung der Gestaltung Zeit zu sparen und manchmal auch menschliche Fehler zu vermeiden. Man muss aber die Grenzen kennen: Wer von einer Maschine Kreativität und Fantasie erwartet, wird enttäuscht werden. Sie verarbeitet, was ihr ein Mensch eingegeben hat, hat aber selbst weder Fantasie noch Intuition. Die Visionen müssen wir als kreative Menschen selbst entwickeln. Genau das ist es, was mich an unserem Beruf so fasziniert.

Was möchten Sie dem heutigen Architekturnachwuchs und dem Nachwuchs in der Baubranche allgemein mit auf den Weg geben?

Sei mutig! Vergiss aber nicht: Der Weg ist steinig und hart. Glaube nicht, sofort die Lösung zu finden. Ohne harte Arbeit gelingt dies nicht. Aber es lohnt sich, sich einzusetzen. Wenn du einmal erlebt hast, vor dem fertigen Gebäude zu stehen, das du dir ausgedacht, geplant und realisiert hast, weisst du: Für dieses Glücksgefühl lohnt sich alle Verzweiflung und Mühe. Einen Bau begehen zu können, ist dein Lohn, und der ist grossartig.

Welche Ratschläge haben Sie für Frauen in der Baubranche?

Habt Mut und Durchhaltewillen.

Tilla Theus wurde für ihr Werk und ihren Beitrag für die Baukultur mit dem Bündner Kulturpreis 2023 ausgezeichnet. Das Swissbau Team gratuliert herzlich!

Hier geht es zur Regierungsmitteilung vom 2. März 2023


Tilla Theus hat ein bedeutendes Werk geschaffen und dabei viel erlebt. Hier beschreibt sie einige Höhepunkte ihrer bisherigen Karriere.


Altersheim und Alterswohnungen im Dorfkern von Mollis GL. (Bild: Tilla Theus und Partner AG)

Als wir sechs Monate nach meinem Diplom den Wettbewerb in Mollis für ein Altersheim und Alterswohnungen im Ensemble mit zwei Altbauten und einer historischen Parkanlage gewonnen hatten, und ich selbst die Bauleitung übernehmen sollte, wurde es heikel. 1970 galt noch das alte Eherecht, und Frauen waren nicht zur Urne zugelassen. Der Baumeister und Fürsorgevorstand der Gemeinde konnte nicht damit umgehen, dass ihm eine Frau auf der Baustelle Anweisungen geben würde. So stellte er den Antrag, «mich von der Baustelle zu entfernen» (Originalton). Denn er hatte herausgefunden, dass ich in der Zwischenzeit geheiratet hatte und nun, nach damaligem Eherecht, meine Unterschrift in finanzrelevanten Themen nicht gültig war, ausser mein Mann in Zürich würde mitunterzeichnen. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der jeder Regie-Rapport in Zürich hätte gegengezeichnet werden müssen. Das bedeutete, ich konnte durch meine Heirat von Gesetzes wegen meinen Beruf nicht ausüben. Der Regierungsrat von Glarus, Kaspar Rhyner, den ich in meiner Not aufgesucht hatte, half mit einem Schreiben an die Gemeinden, die Banken und die Eidgenossenschaft. Er genehmigte, dass ich für diesen Bau einzelunterschriftsberechtigt war für finanzrelevante Themen sowie Regie-Rapporte und Rechnungen zur Zahlung weitergeben konnte.


Anbau Rathauswache der Kantonspolizei Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG)

Anbau Rathauswache der Kantonspolizei Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG)

Für den kleinen Anbau der Rathauswache der Kantonspolizei in Zürich mussten wir einige Quadratmeter Land mit der Stadt abtauschen. Als das Referendum dagegen zustande kam, gab es eine Volksabstimmung. Deren Thema verstand eigentlich niemand richtig, denn was machen 18 m2 Land aus, die von der Stadt dem Kanton übergeben werden sollten? Wenn wir für den Kanton planen, dürfen wir nicht öffentlich Stellung beziehen. So überlegte ich mir, wie ich bei dieser unglücklichen Abstimmung Klärung bringen und sie gewinnen helfen konnte. Ich komme aus einem politischen Haus, also habe ich mir etwas ausgedacht. Da ich verschiedene Altersheime und Kirchgemeindehäuser gebaut hatte und die Problematik dieser Institutionen kannte, dachte ich mir, dass ich ihnen einen interessanten Nachmittag gestalte. Ich brachte das grosse Modell vorbei und legte mein Anliegen dar. Und so erläuterte ich mein Projekt und bat die Kirchgemeinden und die Altersheimbewohner, ihre Stimme diesem kleinen Anbau zu schenken und gleich noch ihre Kinder und Enkelkinder aufzufordern, auch abstimmen zu gehen.

Wir haben gewonnen, zum Leidwesen mancher Kollegen.


Die Widder Bar im Widder Hotel in der Altstadt von Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG/Luca Zanier)
Die Widder Bar im Widder Hotel in der Altstadt von Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG/Luca Zanier)

Beim Umbau von acht mittelalterlichen Handwerkerhäusern in der Altstadt von Zürich zum Widder Hotel gelang es uns, ein 5*-Haus in die bestehenden kleinräumlichen Strukturen einzufügen. Wir verknüpften die acht Altstadthäuser miteinander und liessen sie doch als selbstständige Gebäude weiter bestehen. Mit meiner Vision von Echtheit und Authentizität verlangte ich vom Gast recht viel. Waren damals, in den 1980er-Jahren, doch Säulen, Stuck, Gewölbe, Samt und Brokat der Trend in der 5*-Hotellerie. Man wollte es für die Kunden kuschelig haben. Und da war unsere Vision doch sehr anders: authentisch und kenntnisreich. Dass wir mit dieser Vision Erfolg hatten, zeigen die Gästezahlen und dass wir nun, nach 25 Jahren, mit wenigen Retuschen die Holzarbeiten aufgefrischt und dieselben Möbel neu gepolstert und mit neuem Leder überzogen haben. Alles hat immer noch Bestand, ist oft kopiert, und die Gäste sind immer noch begeistert und lassen es mich sogar nach so langer Zeit immer noch wissen. Das freut.


Kunst am Bau mit handfestem Zweck: Die Erbebenaussteifung für den denkmalgeschützten Leuenhof in Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG/Luca Zanier)

Kunst am Bau mit handfestem Zweck: Die Erbebenaussteifung für den denkmalgeschützten Leuenhof in Zürich. (Bild: Tilla Theus und Partner AG/Luca Zanier)

Der Leuenhof ist der ehemalige Hauptsitz der Bank Leu an der Bahnhofstrasse in Zürich. Es ist uns gelungen, die Vorgabe der kantonalen Denkmalpflege zu respektieren und die grossartige historische Schalterhalle, die imposanten Seitenschiffe und den wichtigen Tresorraum von Eingriffen für die Erdbebenertüchtigung freizuhalten. Die Erdbebenverstärkung konnte durch eine Stahlstruktur im Hof des Gebäudes erreicht werden, das nun als Kunst am Bau von den Kunden wahrgenommen wird. Diese ungewöhnliche Massnahme zeigt, wie scheinbar unerfüllbare Auflagen bei mir eine kreative Wut auslösen können, die wieder zu neuen Visionen und positiven ungewohnten Umsetzungen führt.