Swissbau Blog SBIL on tour 2022

«Die Bereitschaft und Kreativität haben mich überrascht»

Oona Horx Strathern zählt zu den bekanntesten Zukunftsforscherinnen im deutschsprachigen Raum. Jährlich erscheint ihr Home Report, in dem sie wichtige Entwicklungen in der Bauindustrie aufspürt. Ein Gespräch über überraschende Erkenntnisse, rezyklierbare Häuser und eine Zürcher Wohngenossenschaft.

Oona Horx Strathern, als Trend- und Zukunftsforscherin werden Sie vermutlich oft gefragt, was die Zukunft bringt. Wie sieht diese in der Bau- und Immobilienbranche aus?
(Lacht) Da gibt es wahnsinnig viele Aspekte. Die wohl wichtigste Entwicklung ist, dass wir das Bauen neu denken. Früher wurde oft auf die Bauindustrie geschimpft. Es hiess immer, dass diese für rund 40 Prozent der globalen CO2-Emmissionen verantwortlich sei. Nun können wir das Mindset umkehren, sodass der Fokus in Zukunft auf dem Potenzial liegt, das die Branche hat. Die Idee, dass wir eigentlich genug Ressourcen haben, diese aber besser nutzen und gezielter einsetzen müssen, setzt sich langsam, aber mehr und mehr durch.

Welche Erkenntnisse zur Bauindustrie aus dem Home Report 2022 haben Sie persönlich am meisten überrascht?
Ganz klar die grosse Bereitschaft und die Kreativität, mit der vielerorts versucht wird, alte Muster zu durchbrechen und den Umgang mit Ressourcen kreislaufgerechter zu machen. Ich denke da an ganz unterschiedliche Unternehmen, Projekte, Initiativen wie etwa die öffentlich-private Partnerschaft NEST – Next Evolution in Sustainable Building Technologies. In diesem modularen Forschungs- und Innovationscenter der Empa und der Eawag in Zürich werden unter anderem neue Baumaterialien erforscht und getestet. 

Können Sie den aktuell wichtigsten Nachhaltigkeitstrend nennen?
Momentan herrscht ein regelrechter Energie-Boom, alle wollen Photovoltaik-Anlagen oder Wärmepumpen, um die Abhängigkeit vom Gas zu reduzieren. Deshalb ist der wichtigste Trend für mich die Autarkie im Energiebereich, also die Entwicklung zur vollständigen oder teilweisen Selbstversorgung. Es gibt bereits Ansätze für Wohnanlagen, bei der die Miete eine Flatrate ist. Das bedeutet, dass die Bewohnerinnen und Bewohner keine Nebenkostenabrechnung für Strom und Heizung mehr erhalten. Alles ist inklusive und das Gebäude ist energietechnisch so gebaut, dass es mehr Energie produziert, als tatsächlich gebraucht wird. Noch sind solche Smart-Home-Innovationen verhältnismässig teuer, aber die höhere Nachfrage wird die Kosten langfristig senken.

Eine zentrale Entwicklung ist auch das zirkuläre Bauen. Was genau umfasst es?
Vereinfacht gesagt geht es um die Wiederverwendbarkeit der eingesetzten Materialien. Gebäude sollen möglichst modular und flexibel gebaut werden, sodass sie sich später wie ein Lego-Haus zurückbauen lassen und die einzelnen Elemente rezykliert werden können. Laut einigen Experten haben rezyklierbare Gebäude eine Lebensdauer von bis zu 120 Jahren, im Gegensatz zu gewöhnlichen Häusern, die nach rund 40 bis 50 Jahren saniert werden müssen. 
 
Im Home Report schreiben Sie: «Die Begeisterung für nachhaltige Gebäude und Circular Building ist gross. Konkrete Massnahmen werden meist dennoch nicht ergriffen.» Weshalb?
Das hat mehrere Gründe. Meiner Erfahrung nach ist die Bauindustrie trotz aller Innovationsbewegungen im Allgemeinen ziemlich träge. Man setzt lieber auf Gewohntes und Bewährtes statt auf Neues. Häufig braucht es zunächst einen Katalysator, damit Konzepte hinterfragt und neu gedacht werden. Die Coronapandemie war ein solcher Katalysator, wie das Beispiel Homeoffice gut zeigt. Auch der Ukraine-Krieg mit seinen Auswirkungen auf die Energieversorgung und die internationalen Lieferketten könnte ein Katalysator für ökologisches Bauen sein. Ausserdem fehlt es vielerorts an gesetzlichen Vorgaben. Ohne strengere Auflagen passiert schlicht zu wenig. 

Für Ihre Recherche sprachen Sie mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen europäischen Ländern. Inwiefern unterscheiden sich die Länder in Bezug auf ihre Nachhaltigkeitsbestrebungen? 
Die DACH-Region mit Deutschland, Österreich und der Schweiz ist ähnlich weit. Grossbritannien und die südeuropäischen Länder hinken etwas hinterher, während die skandinavischen Länder in vielerlei Hinsicht einen Schritt weiter sind. Das gilt ja nicht nur für die Baubranche, das Mindset dort ist ein anderes. Nehmen Sie beispielsweise die dänische Hauptstadt Kopenhagen: Die Stadt will bis 2035 CO2-neutral sein. Das ist natürlich eine riesige Herausforderung und mir ist noch nicht klar, wie genau das gemessen werden soll. Aber das Ziel, eine ganze Stadt CO2-neutral zu machen, ist per se beeindruckend. 

Was macht die Schweiz gut? 
Die Wissenschaft und die Wirtschaft arbeiten eng zusammen. Das bereits erwähnte Netzwerk NEST ist ein gutes Beispiel, wie die Kooperation aus Forschung, Wirtschaft und öffentlicher Hand dazu führt, dass Innovationen schneller auf den Markt kommen. Und auch an den renommierten Hochschulen wie der ETH Zürich wird viel zukunftsweisende Forschung betrieben, die selbstverständlich auch über die Landesgrenze hinausgelangt. Hier denke ich beispielsweise an das ETH-Spin-off-Unternehmen Oxara, das zementfreien Beton herstellt. Gerade in Bezug auf solche ökologischen Baumaterialien und im Bereich Energie-Innovationen zählt die Schweiz für mich zu den Vorreiterinnen. 

Und wo gibt es Ihrer Meinung nach Potenzial?
Das gilt nicht ausschliesslich für die Schweiz, aber ich denke, dass noch mehr mit eigenen, regionalen Ressourcen gearbeitet werden sollte. Kürzere Transportwege sind ökologischer, und mit einem stärkeren Fokus auf heimische Baumaterialien wirken wir den Lieferschwierigkeiten entgegen. 

Gibt es ein «Schweizer Projekt», das Sie besonders überzeugt? 
Ja, mir gefallen eure Wohngenossenschaften. Ich habe vor einiger Zeit das Hunziker Areal in Zürich-Oerlikon besucht und war positiv überrascht, wie nachhaltig die Überbauung ist. Damit meine ich nicht nur die ökologische Nachhaltigkeit mit der Bauweise und dem 2000-Watt-Ziel. Auch das gemeinschaftliche Wohnkonzept scheint zu funktionieren. Ich erlebte eine lebendige Community, im Innenhof spielten die Leute Boule und es wurde gepicknickt. Das vermittelt ein anderes Bild als jenes der eher distanzierten Schweiz, das wir sonst so haben (lacht). Im Ernst: Genossenschaftsbauten wie das Hunziker Areal sind grossartig, weil sie neben all den genannten Aspekten auch architektonisch und designtechnisch überzeugen.

Wir haben viel über ökologische Trends gesprochen. Welche anderen Entwicklungen in Bezug auf Bauen, Architektur, Wohnen beobachten Sie noch?
Diversität wird immer wichtiger, und zwar in der Architektur, im Design, bei der Wahl der Materialien und bei den Wohnformen. Überall ist mehr Vielfalt gefragt. Ich spreche jeweils von «Playfulness», also einer Verspieltheit, die wir Menschen bewusst und unbewusst brauchen. Bei den Wohnformen beispielsweise gewinnen altersgerechte und generationendurchmischte Konzepte an Bedeutung, weil man herausfand, dass vor allem in Städten nicht nur ältere Menschen häufig einsam sind, sondern auch jüngere. Die Zahl der Single-Haushalte ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Deshalb setzen Architektinnen und Bauherren auf Wohnungen oder Siedlungen, welche die Generationen zusammenbringen und die Interaktion fördern.

Oona Horx Strathern vom «Zukunftsinstitut» ist Expertin für Wohnen, Bauen und Architektur. Sie arbeitet seit über 25 Jahren als Trend- und Zukunftsforscherin sowie als Autorin und Speakerin. Die ehemalige Journalistin beschäftigte sich schon früh in ihrer Karriere mit ökologischen Themen und gründete 1998 gemeinsam mit ihrem Mann den deutschen ThinkTank «Zukunftsinstitut». Heute ist das Unternehmen eine zentrale internationale Anlaufstelle bei Fragen zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die gebürtige Irin lebt mit ihrer Familie in Wien.

Den Home Report 2022 von Oona Horx Strathern können Sie hier bestellen.